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Wo Lenin einst bergstieg: Polens Rysy II

 

 

 Auszug:


„Ich weiß nicht, was Menschen veranlaßt, überhaupt Grenzen zu ziehen. Warum muß hier oben, in der klaren Bergluft, eine Linie gezogen werden, noch dazu mit Knicken? Wenn jemand einen Strich ziehen will, dann bin das nur ich allein, kein Staat. In der Gipfelstunde auf dem Rysy fange ich an, über die Striche nachzudenken, die ich mir selbst noch ziehen könnte. Noch schreibt man nur das Jahr 1985, noch bin ich nur 41 Jahre alt, und die Trennung von der Welt war bisher höchstens schemenhaft anläßlich solcher Gipfelstunden als Fantasiegespinst durch meine Gedanken gezogen.

Wenn ich wirklich diesen letzten Strich ziehen wollte, der mich von der realen, abgestandenen, oft langweiligen, nichtsnutzigen Welt trennen soll, müßte ich gegen mich kämpfen, mein Los zerschmettern, dem Schicksal den Garaus machen. Noch bin ich für mein Überleben von dieser Welt abhängig. Ich müßte die Ringe sprengen, an die ich wie ein Hund festgebunden bin, der vor der Metzgerei auf sein fettes, herausgefressenes Herrchen wartet, das sich drinnen breit über die Theke mit den Schnitzeln beugt. Es müssen auch die familiären Bande sein, die zerschnitzelt werden müssen. Die Schwiegermütter, Onkel und Tanten, die verständnislosen, ja wenn es sein muß, vielleicht sogar die eigene Ehefrau. Alle, die meinen Wahnsinns-Flug hindern, alle Hemmnisse, welche den klaren Blick verstellen, müßte ich ins Niemandsland meiner Vergangenheit zurückschleudern; nur meine unendliche Gier nach Licht dürfte übrigbleiben.

Ich muß mir im Klaren sein, daß das Licht auf den Höhen sehr nahe an der Finsternis liegt. Mein Aufstieg würde eine Gratwanderung sein. Jeder meiner Schritte kann mich entweder dem Sieg entgegenführen oder kann Absturz bedeuten, Höhenflug oder Scheitern. Nur das Mittelmaß will ich hinter mir lassen. In der Klarheit der Höhe wird es nur noch entweder kalt oder heiß, entweder trocken oder naß, entweder hungrig oder satt sein. Hier gibt es keine Freundlichkeit mehr, keine Lauheit, keine Feuchtigkeit, keine Schmierigkeit, keinen Schleim. Was ich von dieser Welt her gewohnt bin, von sogenannten Freunden, meiner Familie, meiner Firma, alles wird eines Tages hinter mir bleiben, für immer zurückfallen. Nichts von kleinlicher Berechnung, nichts von rationalem Ermessen darf die Spannung des Wirbels hemmen. Die ordentlich angezogenen Angestellten, die breitgesichtigen, feisten Chefs, diese gesellschaftlichen Schmarotzer, die sich aufspielenden Strategen der Dummheit werde ich ab sofort vergessen.

Mit der ungestümen Wildheit meiner nicht erschlossenen Zukunft und mit bestialischer Härte werde ich Licht und Dunkel für meinen innerlichen Rausch verschlingen, die sonnenüberfluteten Almweiden, die wabernden Nebelschwaden, die dunkel drohenden Felsabstürze gleichermaßen in mich aufsaugen, meinen allerletzten Freuden und tragischen Verzweiflungen entgegentaumeln. Wahnsinn!

Die Gipfelstunde ist vorbei, die Fantasien sind ausgelebt. Gipfel sind immer für solche Höhenflüge gut. Es reicht, wenn ich sie an einer Stelle, hier auf dem Rysy, exemplarisch beschreibe. Jeder Gipfel hat einen anderen Wahnsinn bereit, je nach Wetter und Tagesform, doch letztendlich zielen sie alle in dieselbe Richtung, mögen mich fortziehen zu noch höheren Höhen.

Eigentlich sollte ich bescheidener sein, dankbarer. Was kann meine Umwelt dafür, daß sie zurückbleibt? Anstatt sie zurückzustoßen, müßte ich sie einladen, mir zu folgen, um aus nächster Nähe die Schönheiten zu bewundern, die Gott uns geschenkt hat und die gewiß zu den größten und gewaltigsten dieser von ihm geschaffenen sichtbaren Welt gehören. Ich sollte dankbar sein, daß mir die Zeit zum Schauen und Sammeln gegeben ist, daß dieses kurze Leben hier in Europa nicht mit Kriegen und Not befrachtet ist, sondern zum ersten Mal seit Jahrhunderten wieder erfüllt gelebt werden kann. Die Schwierigkeiten und Unbequemlichkeiten einer Bergfahrt gehen vorüber, lassen aber Körper und Geist gestärkt zurück. Untilgbar bleibt die Erinnerung an das geschaute Große und Wunderbare. Ich sollte wahrhaftig dankbar sein.“


Panorama vom Gipfel des Rysy: http://www.youtube.com/watch?v=e558XLCpTxE&feature=related


 Aus dem D ist ein P geworden. Eine Schnecke davor. So ändert sich Europa kontinuierlich.


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