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Tschuwaschien – Vyschka,

etwa 80 km nordwestlich von Ul'janovsk, wenige km westlich des tatarischen Russkie Tschukaly;

oder namenloser Punkt 3 Kilometer westlich des tatarischen Schlanga


Autonome Republik im Verband der Russischen Föderation, bewohnt von den hauptsächlich russisch-orthodoxen Tschuwaschen, eine Turksprache sprechend



Tschuwaschische Republik – in russisch und tschuwaschisch – die autonomen Republiken Rußlands werden immer großartig angekündigt.
 

Auszüge:

"Jeden Morgen erhebe ich mich um 4 Uhr von meiner Matratze und stolpere in den erwachenden Tag hinaus. Werde die Styroporkiste unter der Matratze hervorziehen und das leere Gurkenglas draufstellen. Werde kaltes Wasser aus dem Zehn-Liter-Kanister hineinfüllen und mich waschen. Hinter mir im Wald wird der Häher schreien, der sich gestört fühlt. Vom nahen Dorf kräht der erste Hahn.

Dann werde ich mich hinter mein Steuer setzen und neben mich auf mein Regal Brot, Butter, Marmelade, Joghurt, 'Vogelfutter' stellen. In der Thermoskanne wird warmes Wasser sein, abgekocht am Vorabend. Nescafé wird aus einem anderen Glas dazugerührt.

Während ich kaue, werde ich dem Radio lauschen und versuchen, den Hit von gestern einzufangen, dessen scharfer Rhythmus mir gestern ganz tief in den Bauch drang. Und wenn er dann endlich spielt, werde ich lauschen, um herauszufinden, ob der Text zur Melodie, zum Takt und zum Rhythmus, zum Duktus paßt. In den seltensten Fällen ist das so, aber es gibt Juwelen von Klein-Musik, die nie einen deutschen Sender erreichen – sie vegetieren unerkannt am staubigen Straßenrand zwischen Ul'janowsk und Joschkar-Ola. Sie bewegen mich, weil sie eine Stimmung treffen oder mich an etwas lange Zurückliegendes erinnern. Dann kann es sein, und es ist immer öfter so, daß ich alles stehen und liegen lasse, die Hände vors Gesicht schlage, meinen Kopf aufs Steuerrad haue und alles in mich hineinziehe, alles, alles. Danach ist der Tag gerettet.

Im Osten vor mir liegt ein rosa Streifen über dem unendlichen Getreidefeld. Der blaugraue Himmel weicht zurück. Bald wird ein blendender Schuß meine Augen treffen. Da drehe ich den Schlüssel im Schloß um und sehe zu, daß ich das breite Asphaltband des welligen Sowjet-Highways erreiche, auf dem ich für Stunden aufdrehen und die weiten Felder zu beiden Seiten an mir vorbeifliegen lassen kann. Kein Straßenbegrenzungspfahl, kein Mittelstreifen, kein Warnschild wird diese Freiheit begrenzen. Auf russischen Fernstraßen herrscht totale Freiheit.

Die Freiheit, die ich da spüre, liegt in der Nutzlosigkeit dessen, was ich tue. Ich fahre Zielen entgegen, die niemand sonst außer mir im Sinn hat. Niemand käme auf die Idee, wie ich im Unterholz herumzuwühlen, um einen bestimmten Geländepunkt, eine sanfte Anhöhe, einen Dreiländerstein, einen versteckten Gipfel anzulaufen. Niemand sonst würde wie ich die tiefe innere Befriedigung spüren, die sich einstellt, wenn man etwas tut, was keinem auf der Welt auch nur im Traum einfallen würde. Es ist die Einzigartigkeit des Sinnlosen.

Manchmal muß ich mein Vehikel abstellen und kilometerweit zu Fuß ins Gelände vorstoßen. Da ist es der Rhythmus meines eigenen Schritts, der mir Richtung und Halt gibt. Nie habe ich so klar gedacht, so sehr gelebt und war nie so ich selbst, als während langer Fußmärsche in fremdem Gelände. Nie habe ich eindringlicher beim Gehen erfahren, daß Zeit keine Rolle spielt, daß ich von den tirilierenden Lerchen über den Feldern eine neue Qualität meines Daseins lerne. Zeit ist eine menschliche Erfindung; eigentlich gibt es sie gar nicht. Wie alle, die ich in der Heimat zurückgelassen habe, diesem Irrtum so leicht unterliegen können! Ich grüße all die Bedauernswerten, die sich von der Schimäre 'Zeit' regieren lassen.

Während ich gehe, langsam, aber konstant, wird mir wieder ein passendes Lied einfallen, das mir durch den Kopf geht. Manchmal ist des das Pfeifen eines irischen Paradetrupps, das ich bei den Marschierern in Belfast aufgeschnappt habe, als sie zum x-ten Mal den Jahrestag der Battle of the Boyne feierten; manchmal ist es der Song aus dem Zulu-Musical 'Ipi Tombi', der von der Sehnsucht des Johannesburger Bergarbeiters zu seiner Nadja handelt, die er im Kral zu Hause zurücklassen mußte; manchmal was anderes – immer werde ich das Passende aus meinem Repertoire abrufen können, und immer wird es zur Landschaft und meiner Gemütsverfassung nahtlos passen. Mein Weg ist ein einziger schweigender Gesang.

In der Stille, die mich umgibt, beginne ich zu hören. Erst wenn alles verstummt ist, was mich noch in der letzten Stadt brüllend und hastend umgab, beginne ich zu sehen. Die Stille stellt keine Fragen, sie läßt keine Gedanken zu, die mich ablenken würden. Aber auf alles kann sie eine Antwort geben.

Dann steigt der Weg an, beginnt sich zu winden. Nach einer Weile stehe ich höher als all das Land um mich herum. Da fühle ich die Leiter vor mir stehen, die mir mit meiner Geburt gegeben wurde – daß ich eines Tages den Weg zum Himmel wiederfinde. Und wenn ich oben angekommen bin, auf der letzten Sprosse, ist da der Himmel – und ich bin allein mit mir.

Da kann es kommen, daß ich beschließe, hier zu bleiben; das Gefühl zu strecken. Da fällt dann schnell die Nacht herein, ohne daß ich ausreichend zu essen und zu trinken habe. Da weiß ich nicht, wie ich mich in dieser Nacht zudecken soll. Da rolle ich meinen Anorak auf dem Feldrain aus und nehme den Rucksack als Kopfkissen. Da schwirren die Fledermäuse um mich. Da erscheint blaß und tief über dem Horizont die Venus. Unendlicher Raum, absolute Stille. Ich schlafe ein und wache wieder auf. Durch den gigantischen Sternhimmel leuchtet der Vollmond wie eine riesige Taschenlampe. Alles ist auf das Lebensnotwendigste reduziert, nichts gibt es im Überfluß. Genau so muß es sein, wenn ich mich glücklich fühlen will."


 

"Kaufladen" für "Produkty" – und "Sachen am Wege"

 

Friedliches Dorfleben an der Grenze zu Tatarstan

 

Es hat Holz gegeben.

 

Babuschka mit Wnuk

 

"Von der Grenze Tatarstan/Tschuwaschien sind es noch acht Kilometer zum ersten tschuwaschischen Ort, Schemurscha. Zum Glück lasse ich mich nicht verleiten, schon bei dem Schild 'Bol. Schemurscha', 'Groß-Schemurscha', nach links abzubiegen, sondern erst an der zentralen Kreuzung, ein paar hundert Meter weiter, dort, wo rechts ein 'Трактир' steht, ein Traktir, ein Wirtshaus, in dem man traktiert wird; linker Hand der anhand seines Schildes 'DPS' nicht zu übersehende Posten der Straßenpolizei, der allgegenwärtigen, allmächtigen Dorozhno-patrul'naja sluzhba, der Straßen-Patrouillen-Gesellschaft – eine feine Gesellschaft. Besser keinen Blick hinwerfen, sondern schnell links abbiegen, bevor die Herren mit den Schlagstöcken und den Tellermützen wie Heiligenscheine sich näher für mich interessieren. Wohin bin ich hier geraten? Was ist das für eine Republik?"

 

Am "wahren" höchsten Punkt Tschuwaschiens: 271,0 m im mückenverseuchten Unterholz westlich von Schlanga

 

"Jetzt habe ich meiner Schätzung nach noch um die 1500 Schritt in den Wald hinein zurückzulegen.  Die ersten 800 davon führt der Weg leicht ansteigend teils schlammig, teils überwuchert, teils durch umgestürzte Bäume blockiert mehr oder weniger in Westrichtung, wie es die Karte nahelegt. Dann gabelt er sich. Die linke Gabel führt der Karte nach zu urteilen in die falsche Richtung, zu weit nach Süden, während ich grob Westrichtung einzuhalten habe, und auf eine Lichtung hinaus. Schon attackieren mich die ersten Stechmücken, weil ich da zu lange unschlüssig stehe und die Karte studiere, die auch nicht im letzten Detail weiterhilft, weil 1 : 100000 in einem verworrenen Wald immer noch ein viel zu großer Maßstab ist.

Die rechte Gabel steigt weiter leicht an und beschreibt einen weiten Bogen nach Westsüdwest – wie auf der Karte. Ich gehe auf diesem Ast noch 400 Schritt – alles fein säuberlich abgezählt, damit ich mich wenigstens in etwa nicht bei der Entfernung verschätze – also insgesamt 1200 von gedachten 1500 Schritt; dann ist im dichten Unterholz keine weitere Steigung auszumachen. Die genaue Lage von Punkt 271 ist nicht festzustellen, da ja, wie auch die Karte sagt, kein Vermessungszeichen angebracht ist. Ebenso hat das Aufnehmen von Koordinaten wenig Sinn, da in der engeren Umgebung alles ziemlich gleich aussieht; außerdem würde ich im dichten Wald gar kein Signal von Satelliten erhalten."


 

Punkt 271,0 versteckt im Wald westlich von Schlanga

 

Nach rechts dem Wegweiser "Russkie Tschukaly" folgen!

 

Morgens in Russkie Tschukaly

 

Der Turm auf der Vyschka, 270,6 m, ...

 


... ein schwankendes Gestell

 

"Der Schlagbaum steht offen, der sandige Weg, der unter ihm durchführt, scheint mit dem Auto noch befahrbar zu sein, also versuche ich es. Aber ich komme nur etwa 400 Meter weit, dann stehe ich vor der ersten wassergefüllten Spurrille. Pilzsucher erklären mir, daß mein Ziel „Wyschka“ heißt, „die Höchste“. Der Gipfel läge angeblich 300 Meter vom Weg entfernt im Wald und sei nicht mit dem Auto zu erreichen. Also lasse ich das Auto einfach hier stehen, ziehe die Stiefel an, sprühe mich mit Mückenschutz ein und wandere los.

Ich marschiere munter drauflos auf dem ausgetretenen Waldweg und stelle erfreut fest: Der Wald ist moskitofrei. Mein Kärtchen bedeutet mir, daß ich bei einem Punkt, der mit "br." = Brod, "Furt" eingezeichnet ist, spitzwinklig nach rechts abbiegen beziehungsweise dem rechten Ast einer Gabel folgen muß. Da ist eine solche Gabel. Ich laviere etwas, unsicher, ob das der erwartete Punkt ist, und gerate auf einen Bergrücken. In etwa einem halben Kilometer, unerreichbar durch dichtes Gehölz und undurchdringlichen Verhau, sehe ich einen Aussichtsturm über die Wipfel ragen. Er scheint von derselben Art zu sein wie heute morgen der Wachturm bei Punkt 265,1. In Scherbewegungen arbeite ich mich auf dubiosen Waldwegen durch alle Arten von Grünzeug bergab und spitzwinklig wieder bergan durch den völlig unübersichtlichen Wald. Ich versuche die Richtung zu halten, die mir mein Gefühl vorgibt. Plötzlich stehe ich auf einer Lichtung, auf der sich das Eisengerüst eines schlanken Turms erhebt: mein Ziel!"


 

Hinauf!

 

Von oben nach unten

 

Über dem "Urwald" Tschuwaschiens

 

"Vorsichtig hangle ich mich die einigermaßen vertrauenserweckende Konstruktion hoch, über vier Plattformen und fünf Leitern, bis ich oben auf dem Ausguck stehe. Leicht schwankt das Gerüst im Wind, während ich wieder messe: 303 Meter Höhe, 54 Grad 43,153 Minuten Nord, 47 Grad 8,529 Minuten Ost. Doch dann der Ausblick! Gestern stellte er sich, bei anziehendem Gewitter, unter den Wolken als tiefgrüner Dschungel dar, heute dagegen im hellen Sonnenlicht brillantgrün. Nach Westen und Nordwesten hin unübersehbar weite Wälder, nach Südosten der sanfte Abhang, der hinunter zu den Tschukaly-Dörfern leitet. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl über das Erreichte, und das nur auf 270 Meter Höhe! Aber selten ist der Blick, kaum je wird ein Deutscher hier oben stehen. Kaum je wird sich ein Deutscher um die Schönheiten Tschuwaschiens kümmern. Tschuwaschien? Was ist das? Nationalpark? Der Mann auf der Straße denkt: nie gehört, also will ich es auch gar nicht hören, will lieber dumm bleiben.

In der Ecke der Ausguck-Plattform liegt noch der Schlafsack und eine leere Trinkflasche, die der schweigsame Kamerad zurückgelassen hat, der hier oben gestern nächtigte. Er weiß um die Schönheiten Tschuwaschiens!"


 

Punkt 270,6 nördlich von Russkie Tschukaly


Tanzperformance: Poesie aus Russland und Tschuwaschien – https://www.youtube.com/watch?v=XOf2-IU5spY


 

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