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Die Kleinen – was mir Malta selbst im deutschen Westen bedeutet


 „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen;

  und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. ...

  Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können,

  und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.“

Ludwig Wittgenstein – * 26. April 1889 in Wien; † 29. April 1951 in Cambridge – österreichisch-britischer Philosoph

 


"Gerade bin ich am Ende meines Selfkant-Kapitels angelangt, und schon die ganze Zeit, die ich an der Westgrenze Deutschlands entlang von einem zum anderen kleinen Hügelchen krieche, im Saarland, in Luxemburg und zuletzt im Selfkant, verfolgt mich das Problem, wer in den jeweiligen Gebieten denn nun wirklich der Höchste ist. Das nächste Kapitel soll mich ins Saterland führen: Dort ist der höchste Punkt 13,1 Meter 'hoch'. Worein verstricke ich mich da?

Nun, die kleinen Hügelchen ringen miteinander um die Ehre des wirklich Höchsten. Fein, das kann ich ihnen nicht verübeln. Manche plustern sich auf und rufen mir zu: 'Ich bin's!' Das soll mein Leben als Bergsteiger einfacher machen. Sie präsentieren sich, stellen sich zur Schau, unübersehbar mit Plakette und offiziellen Ehren. Dann komme ich, um festzustellen: Nein, ihr lügt. Ihr wollt mich irreführen. Ein anderer wartet nämlich da bescheiden im Hintergrund, verborgen, unentdeckt, irgendwo auf einem Acker, auf einer kahlen Fläche im Nirgends, ein paar Zentimeter oder einen Meter höher.

Ich begreife: Hier sind von mir andere Qualitäten gefragt. Es geht nicht mehr um plattes Obenstehen, nicht mehr um Niederringen der Hindernisse, nicht mehr um Sieg über die eigenen Schwächen. Das tue ich bei den populären Höchsten, den Bergen im landläufigen Sinn. Die ragen hoch in den Himmel und schauen auf mich armseligen Wanderer herab. Auf ihnen stehen kommt mir manchmal vermessen vor, so als ob ich mich über sie erheben wollte.

Bei den Kleinen, Verborgenen, geht es um Aufspüren und Finden. Die Kleinen kämpfen mit anderen Mitteln. Nicht mehr sind es scheinbar unüberwindbare, glatte Felswände, nicht mehr glitzernde Gletscher, die sich mir entgegenstellen. Jetzt geht es um schlüpfrige Sümpfe, schwarze Moore, dornige Hecken. Doch mehr noch: Es geht um ausgefeilte Planung, akribische Vorarbeit, tiefgebeugtes Studieren von Landkarten. Es geht um ausgeklügelte Wegfindung, denn auf die Kleinen hat niemand einen markierten Weg gelegt. Niemand kümmert sich um sie, mich mal ausgenommen. Sie liegen einfach nur da, irgendwo im offenen Gelände. Darüber das Azur des grenzenlosen Äthers, das Tirilieren der Feldlerchen. Sie haben ihren Blick himmelwärts gerichtet, sie lehren mich, nach oben zu blicken.

Sie lehren mich, unaufgeregt wie ich in diesen glücklichen Momenten auf ihnen stehe, allein, einsam, weil sonst keiner solchem 'Blödsinn' wie ich verfallen ist, sie lehren mich innezuhalten und nachzudenken.

Sie stellen, intensiver noch als die hohen Berge, auf die der 'normale' Bergsteiger steigt, die Sinnfrage. Bergsteigen als Lebenssinn? Welchen Sinn hat es, daß ich ein Jahrzehnt meines Lebens verbringe, irgendwelchen Gipfeln nachzujagen? Sinn kann das nur haben, wenn es sich in einer endlichen Welt abspielt, in der es Grenzen gibt, die sich meinem Überschreiten widersetzen, in der es sichere und definierte Punkte gibt, die ich erreichen kann. Berge können diese Punkte sein.

Das Uferlose beim Bergsteigen ist jedoch, daß mir jeder Berg einen Wegweiser zur Unendlichkeit liefert, weg vom Endlichen. Alles wird kümmerlich angesichts der geschauten, erlebten Grenzenlosigkeit. Ich erfahre die Unendlichkeit und werde von Schwindel befallen. Ich stehe benommen da, verwirrt. In der Unendlichkeit gibt es keine Richtung mehr. Die Richtung, die mich vorhin noch nach oben, dem Gipfel zu lenkte, hat aufgehört zu existieren. Ich stehe oben. Um mich ist alles unendlich. Keine Richtung führt irgendwohin. Das Unendliche nimmt dem Problem des Sinns auf dieser Welt seine Grundlage. Sinn ist im Unendlichen nicht zu finden.

Dem kann ich nur entkommen, wenn ich die Sinnlosigkeit als Rausch, als verzehrenden Strudel in seiner ganzen Negativität annehme. Ich brauche den Sinn nicht. Bergsteigen in seiner ganzen Sinnlosigkeit ist universaler Unsinn. Ich lebe als Bergsteiger, weil diese Welt keinen Sinn hat, auch nicht in der Nische der Täler und Niederungen. Es gibt keinen rechten Beweggrund, keine definierbaren Ideale, so lasse ich mich stürzen, fliegen, abheben, in den schwindelerregenden Wirbel der Unendlichkeit, lasse mich m it auf den aufschäumenden Wogen in den Raum reißen, lasse mich treiben, ziellos, zehre mich in diesem Feuer, in der verwüstenden Glut der Sehnsucht auf, liebe meine Sucht als kosmischen Wahnsinn. Zügellose Anarchie!

Ich kann das Unendliche nicht erfahren, wenn es nicht in mir sofort diesen allumfassenden, unheilbaren Wirbel auslösen würde. Ich kann die Unendlichkeit, welche mir Berge einflößen, nicht begreifen, wenn ich nicht anarchische Triebe im Keim in mir trüge. So trenne ich mich hier, endlos abhebend, davonfliegend ins Nichts des unendlichen Rauschs, von denen, die das nicht erfahren können, weil sie sich mit weniger zufrieden geben. Hybris? Oder göttlicher Funke?

Das Unendliche erleben ist die schönste Lehre der Anarchie, der Auflehnung, des Widerborstigen, des Querdenkens, der vollkommenen Zerrüttung. Das Unendliche, einmal auf einem Berg erfahren, zersetzt, erregt mich, nagt an den Wurzeln meines Wesens. Es zwingt mich, alles Belanglose, alles Irdische, alles Zufällige zu vernachlässigen. Im Angesicht der Unendlichkeit scheinen sogar die Schmerzen meiner Hinfälligkeit geringer.

Wie gut also, daß ich mich ins Unendliche stürzen kann, wenn ich alle Hoffnungen auf eine greifbare Sinnfindung verloren habe, daß mir das Recht auf den Sprung ins Bodenlose zusteht, daß ich an der universellen Strudel-Anarchie teilhaben kann! Es erfaßt mich alle Raserei dieser unaufhörlichen Bewegung, bis zur Erschöpfung, ich denke weniger an den Tod als an meinen unsäglichen Wahnsinn,  verwirkliche den Traum von grenzenloser Barbarei und überbordendem Überschwang, bis zum Heulen im Orgasmus. Die Tränen laufen meine salzigen, sonnenverbrannten Wangen herab, wenn ich schwebe, durch den Raum, ohne Zweck und Ziel, absolut.

Und wenn der Tag einst kommt, daß ich das nicht mehr erleben kann, weil ich zu alt, zu gebrechlich geworden bin, um auf die Höhen der Erleuchtung zu steigen, dann packt mich die Sehnsucht nach dem letzten, dem ultimativen Höhepunkt. Einmal wird es mir in meinem Leben noch beschert sein, die letzte, die allerletzte Schwelle zu übertreten, in aller Einsamkeit. Dann werde ich nicht wieder zurückkehren. Dann werde ich selbst unendlich, in den totalen Raum des Nichts eintreten. Dann werde ich im Tod einmal und unwiderruflich die Lehre über den totalen, allumspannenden Unsinn dieser Welt erfahren. Wenigstens bin ich vorbereitet. Ich bin einer der Wenigen, die es wissen. Ich bin auf den Pfaden des Wahnsinns gewandelt. Ich habe die Verlockungen der Begrenztheit überwunden, habe die Formen aufgelöst, die Beschränktheit mißachtet, niedergerungen. Ich habe die Ekstase erfahren, habe uns dem Uferlosen hingegeben. Ich bin vorbereitet auf den Tod. Berge haben mir die Richtung gewiesen.

Endlich muß ich meinen Respekt vor den Kleinen zollen, denen, die mir das Leben schwermachen, die meinem Wahnsinn Grenzen setzen. Anders machen sie das als 'richtige' Berge, und die Wirkung ist anders. Sie führen mir meine eigene Überheblichkeit vor, indem sie sich verstecken, sich abschotten hinter einer Wand, ja sich geradezu unsichtbar machen, mich auflaufen lassen. Gerade wieder, hier zwischen Selfkant und Saterland hat es wieder einer geschafft. Ganz aus dem Hinterhalt noch dazu, aus dem Zusammenhang gerissen, unerwartet, völlig überraschend:

Eine Bekannte, die meine Leidenschaft seit Jahren wohlwollend verfolgt, die Geographin Dr. Gotlind Blechschmidt aus Augsburg, ist über Weihnachten nach Malta gefahren. Animiert durch mich, ist sie dem höchsten Punkt Maltas nachgestiegen, dem Ta'Dmejrek. Und kam zurück und berichtete. Mir stockte der Atem: Sie war auf einem anderen, dem richtigen Ta'Dmejrek.

Der "richtige" Ta'Dmejrek. Foto: Dr. Gotlind Blechschmidt


Eindeutig sah der anders aus als das Hügelchen neben der Aussichtsstraße über der Küste, das ich im Oktober 2002 erklommen hatte. Eindeutig hatte sie ihn gefunden, auf ihrer Karte 1 : 25000. Anhand zweier Straßeneinmündungen konnte sie ihn identifizieren. Der Stock obenauf war einer der üblichen Vogellandeplätze, nur das Brett war abgefallen.

Und was hatte ich damals getan? Gut, ich hatte keine genaue Karte, aber hätte ich nicht vorher mich um eine bemühen können? Hätte ich nicht Leute in Dingli fragen können? Hätte ich nicht einfach genauer in der Gegend umherstreifen sollen? Stattdessen habe ich leichtfertig irgendeinen Erdhaufen angesteuert, ein oder zwei Kilometer entfernt und habe mich, da nichts Höheres zu sehen war, damit zufriedengegeben. Habe mir eingebildet, ich sei auf dem Ta'Dmejrek gewesen.

Ich könnte nun meine eigene Schwäche gestehen und beichten: Durch Dich, Gotlind, habe ich gelernt, daß ich mich in Malta verzockt habe. Aber es ist noch mehr: Der Ta'Dmejrek hat mir nachträglich vorgeführt, wie ernst er genommen sein will. Nur sanft erinnern wollte er mich in all seiner Bescheidenheit. Das rührt mich ganz anders an als die stolzen Gipfel, auf die jeder rennt.

Dann schauen wir beide in unsere Landkarten. Wir stellen erstaunt fest: Wir waren beide auf demselben Punkt 253, haben ihn nur in verschiedenen Blickrichtungen aufgenommen. Was für eine Erleichterung! Ihr Ta'Dmejrek ist mein Ta'Dmejrek. Unvermittelt fühle ich mich wie auf einem kleinen Gipfel stehend, werfe die gefalteten Hände über meinen Kopf und richte meinen Blick in Dankbarkeit himmelwärts: Ich muß nicht nochmal nach Malta!"





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